Amine und ihr Vater sitzen vor einer Wand und lächeln sich an.

Amina

Afghanistan 2022

Seit 40 Jahren herrscht in Afghanistan kein Frieden mehr. Mit der Machtergreifung der Taliban sind die Kämpfe abgeflaut. Die humanitäre Lage verschärft sich jedoch. Ein Großteil der Bevölkerung ist auf Hilfsgüter angewiesen. Vor allem die Rechte von Frauen und Mädchen sind völlig ausgehebelt. Terrororganisation starten bereits wieder mit neuen Anschlägen. Die Zeiten für die Menschen am Hindukusch bleiben bitter.

Im großen Übungssaal des Rehabilitation-Zentrums von Kandahar steht ein Mädchen. Amina sieht aus wie eine Erwachsene, die auf Kindergröße geschrumpft ist. Ihr Kopftuch umrahmt ein ernstes Gesicht. Die Augen erzählen unfassbar Trauriges. Auf dem weißen Boden vor ihr sind grüne und rote Fußkonturen aufgepinselt. Große Spiegel stehen an den Wänden. Davor befinden sich langgezogene Barren. Hier üben Versehrte wieder aufrecht zu stehen. Das Gleichgewicht zu finden für eine Welt, die außerhalb des Zentrums schon so lange aus den Fugen geraten ist.

Amina hat mit ihren sieben Jahren noch einmal lernen müssen, wieder stehen und gehen zu können. Dafür übte sie mit ausgebreiteten Armen, auf nur einem Bein stehend, das Gleichgewicht zu finden. Manchmal, als es einfach nicht klappen wollte, konnte sie die Tränen nicht halten. Dann endlich wagte sie die ersten Schritte mit der Prothese. Ganz ohne Krücken. Ohne dass sie jemand stützend hielt. Ihre Prothese wurde zuvor in dem Zentrum hergestellt, ihr kleiner Beinstumpf mit Bandagen vorbereitet, damit er in das Bein aus Kunststoff passte.

Das fehlende Bein ist bei weitem nicht ihr größter Verlust. Davon erzählt Yar Mohammad im Büro des Einrichtungsleiters. Der Familienvater berichtet, wie sie im Juli vergangenen Jahres noch alle am Morgen bei einem leichten Frühstück zusammensaßen. Dann ging die Familie los, die fünf Geschwister, Mutter und Vater. Die Kinder gingen zur Schule, als Ende Juli 2021 das Unglück geschah. Die Taliban waren auf dem Vormarsch und lieferten sich in Kandahar mit den Regierungstruppen Gefechte. Die Rakete kam wie aus heiterem Himmel. Die Familie hatte keine Chance, dem Einschlag zu entkommen. Zwei der Geschwister kommen ums Leben.

„Meine Frau lebte noch. Schwer verletzt brachten wir sie ins Krankenhaus. Dort starb sie dann kurz darauf.“ Yar Mohammads Stimme wird immer leiser, bis sie verstummt. Seine Tochter blickt zu ihm mit erschrockenen, traurigen Augen. Ihr Vater schafft es nicht mehr, davon zu berichten, dass zwei Töchter starben. Die drei Kinder, die überlebten, alle schwer verletzt waren. Er findet keine Worte mehr. Auch nicht der Dolmetscher, dem Tränen in den Augen stehen. Im ersten Halbjahr 2021 wurden in Afghanistan 468 Kinder durch Kriegsfolgen getötet. 1.214 weitere verwundet oder wie Amina versehrt. Im besagten Zeitraum gab es laut UN 5.183 zivile Opfer, davon 1.659 Todesfälle.

Yar Mohammad selbst trafen Splitter. Sein rechter Arm musste operiert werden. Er ist nicht mehr belastbar. Heute verkauft er Kaugummi mit einem kleinen Bauchladen. „Wenn es gut läuft, verdiene ich umgerechnet zwei Dollar. Zu wenig, um meine Familie zu ernähren“, sagt der Familienvater, der mit seinen Kindern in einer kleinen Lehmhütte mit nur einem Zimmer haust. Doch selbst für diese schäbige Unterkunft weiß Yar Mohammad oft nicht, wie er die Miete aufbringen soll. Ohne Hilfe von Nachbarn, Verwandten und Lebensmittelspenden von Hilfsorganisationen könnte die Familie schlicht nicht überleben.

Yar Mohammad ist dennoch dankbar. „Da war ein Mann, der hatte einfach Geld hinterlegt, damit meine Amina in Pakistan operiert werden konnte. Und dann bekam meine Tochter von Handicap International das Geschenk, wieder laufen zu können“, meint der Familienvater zum Abschied.

In der Werkstatt überzieht derweil ein Mitarbeiter einen kleinen Fuß aus Gips mit einer Kunststoffschicht. Die nächste Kinderprothese wird angefertigt.

„Dann bekam meine Tochter von Handicap International das Geschenk, wieder laufen zu können.“ Yar Mohammad, Vater von Amina

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So unterstützt Handicap International

Durch eine Rakete verlor Amina ein Bein, zwei Geschwister und ihre Mutter. Explosivwaffen (Granaten, Raketen, improvisierte Sprengsätze und Streubomben usw.) töten und verstümmeln. Über 90 Prozent der Opfer stammen aus der Zivilbevölkerung – und das, obwohl der Einsatz von Explosivwaffen in bevölkerten Gebieten (EWIPA) durch das Völkerrecht verboten ist. Handicap International setzt sich dafür ein, dass das Völkerrecht und der besondere Schutz, unter dem die Zivilbevölkerung steht, mehr geachtet wird und die Betroffenen der explosiven Kriegsreste unterstützt werden.

Zusammen mit INEW beteiligten wir uns aktiv an dem diplomatischen Prozess zur Ausarbeitung einer politischen Erklärung, die dem besseren Schutz der Zivilbevölkerung vor dem Einsatz von EWIPA dienen soll. Die politische Erklärung wurde bei einer offiziellen Unterzeichnungskonferenz in Dublin am 18. November 2022 bereits von vielen Staaten angenommen und beinhaltet wesentliche Forderungen von HI und INEW: So werden die humanitären Auswirkungen von Explosivwaffen erstmals anerkannt und klare Verpflichtungen für die Staaten zur Opferhilfe, zur Räumung von Kampfmittelrückständen und zur Risikoaufklärung genannt.

Amina wurde im Reha-Zentrum von Handicap International versorgt und kommt zu regelmäßigen Check-Ups vorbei. Das Zentrum ist das einzige seiner Art in der Region (Stand 2022). Seit der Gründung von Handicap International im Jahr 1982 sind Reha-Leistungen für Menschen mit Behinderung eine zentrale Aufgabe. Fachkräfte werden vor Ort ausgebildet und nutzen lokal verfügbare Materialien, Kompetenzen und Infrastrukturen. Hilfsmittel, wie zum Beispiel Prothesen, Orthesen, Rollstühle oder Hörgeräte, sowie psychosoziale Unterstützung helfen den Betroffenen wieder selbstständig ins Leben zurückzufinden.