Nujeen sitzt in einem Rollstuhl.

Nujeen Mustafa, 21 Jahre

Syrien 2013/Deutschland 2020

Drei Stunden lang. Drei Stunden donnerten die MiGs über Aleppo und warfen ihre Bomben ab. „So lange an einem Stück, das hatten wir noch nicht gekannt“, sagt Nujeen Mustafa heute.

Damals, im Jahr 2013, flüchtete sie mit ihrer Mutter in das Badezimmer. Es hatte eine verstärkte Zimmerdecke. Wenn eine Granate im Haus einschlug, dann wäre es wohl der sicherste Platz mit den besten Überlebenschancen. Die anderen aus der Familie, der Vater und die älteren Brüder, taten das Gegenteil. Sie stellten sich auf die Dachterrasse und sahen, wie die Kampfflugzeuge heran donnerten, über ihre Köpfe hinweg kreischten, die Sprengsätze warfen, abdrehten und dann die nächste Angriffswelle kam.

Die Sprengsätze detonierten in anderen Stadtteilen. Im Nachhinein gesagt: in sicherer Entfernung. Doch das war Mutter und Tochter nicht bewusst, als die Bomben flogen. Sie hörten die Düsenjäger und die Einschläge. „Bei jeder Explosion hatten wir Angst, dass es unser letzter Moment sein könnte“, erinnert sich die heute 21-Jährige. Im Jahr 2013 war sie als Teenager schon eine Expertin in Sachen Kriegslärm. „Wer gut war, konnte das Pfeifen einer MiG 23 von einer MiG 25 unterscheiden. Die schweren Detonationen von Fassbomben. Oder wenn es Granaten waren, die explodierten“, erklärt sie. Nujeen Mustafa muss mitansehen, wie das historische Aleppo zu Schutt zerbombt wird. Sich ganze Straßenzüge in Ruinenketten verwandeln.

„Ich hatte mir immer gedacht, wenn es jemanden aus unserer Familie treffen muss, dann bitte mich“, sagt sie heute. In der kleinen, modernen Wohnung in einem Vorort von Köln sind das Sätze aus einer fremden, grausamen Welt. Nujeen Mustafa sitzt auf einem grauen Stoffsofa. Die beiden Schwestern teilen sich die kleine Wohnung. Nujeen Mustafa ist durch eine angeborene Behinderung auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie braucht Unterstützung im Alltag. Ihre Schwester steht an der nahen Küchenzeile und bereitet den Tee. Draußen vor dem Haus herrscht geordneter deutscher Alltag. Die Mülltonnen stehen für die wöchentliche Entleerung bereit. Der Verkehr schiebt sich behäbig vorbei.

„Damals in Syrien befürchtete ich, ich würde wegen meiner Behinderung die Flucht meiner Familie verlangsamen. Alle in Gefahr bringen“, erklärt sie. Die Familie flieht, als der IS immer weiter vorrückt und die Bombardierungen zunehmen. Doch Nujeen Mustafa erweist sich nicht als Last, sondern als Stütze. Die Teenagerin hatte sich Englisch beim Schauen amerikanischer Soaps beigebracht. Die Sprachkenntnisse sind nun äußerst hilfreich. 2015 erreicht die Familie Deutschland, nach eineinhalb Jahren Flucht.

Seit 2015 ist die 21-Jährige in der Bundesrepublik. Der Tag ihrer Einschulung war ihr schönstes Erlebnis. Endlich ein gewaltiger Schritt in ein neues, friedliches Leben. Dann kam ein Schulausflug nach Berlin. Nujeen Mustafa reiste zum ersten Mal nach ihrer Flucht zum Vergnügen. Jetzt bereitet sie sich auf ihr Fachabi vor. Mit der bekannten Autorin Christina Lamb schrieb Nujeen Mustafa sogar ein Buch über ihre Jahre im Krieg und auf der Flucht. Mittlerweile sprach die junge Frau schon in Australien und Kanada und sogar bei den Vereinten Nationen in New York.

Sie hält Vorträge an Schulen und Unis in Deutschland. Was sie über Krieg erzählt, vom Verlust von Heimat, vom Überleben als Mensch mit einer Behinderung, das können ihre Zuhörer nur ansatzweise verstehen. Auch was es bedeutet, wenn der Krieg nachts nach den Träumen greift. „Ich erwarte nicht, dass Menschen aus einem Land im Frieden das verstehen können. Aber ich hoffe, ich bringe sie zum Mitfühlen“, sagt Nujeen Mustafa. Die 21-Jährige ist zu einer Aktivistin geworden, zu einer jungen und selbstbewussten Frau. Mit der Hilfsorganisation Handicap International engagiert sie sich gegen die Bombardierung der Zivilbevölkerung und unterstützt andere Geflüchtete mit Behinderung in Deutschland.

„Man kann sich nach Krieg und Flucht als Opfer fühlen, oder als Überlebende“, sagt sie. Als Opfer kann niemand dem Krieg je entkommen, das weiß Nujeen Mustafa.

„Ich hatte mir immer gedacht, wenn es jemanden aus unserer Familie treffen muss, dann bitte mich.“

So unterstützt Handicap International

Nujeen floh vor dem Krieg und der Bombardierung ihrer Heimat. Explosivwaffen (Granaten, Raketen, improvisierte Sprengsätze und Streubomben usw.) töten und verstümmeln. Über 90 Prozent der Opfer stammen aus der Zivilbevölkerung – und das, obwohl der Einsatz von Explosivwaffen in bevölkerten Gebieten (EWIPA) durch das Völkerrecht verboten ist. Handicap International setzt sich dafür ein, dass das Völkerrecht und der besondere Schutz, unter dem die Zivilbevölkerung steht, mehr geachtet wird und die Betroffenen der explosiven Kriegsreste unterstützt werden.

Zusammen mit INEW beteiligten wir uns aktiv an dem diplomatischen Prozess zur Ausarbeitung einer politischen Erklärung, die dem besseren Schutz der Zivilbevölkerung vor dem Einsatz von EWIPA dienen soll. Die politische Erklärung wurde bei einer offiziellen Unterzeichnungskonferenz in Dublin am 18. November 2022 bereits von vielen Staaten angenommen und beinhaltet wesentliche Forderungen von HI und INEW: So werden die humanitären Auswirkungen von Explosivwaffen erstmals anerkannt und klare Verpflichtungen für die Staaten zur Opferhilfe, zur Räumung von Kampfmittelrückständen und zur Risikoaufklärung genannt.

Seit 2015 lebt Nujeen nun mit ihrer Familie in Deutschland. Für Geflüchtete mit Behinderung gestaltet sich der Weg nach Europa meist besonders schwierig und auch nach ihrer Ankunft stehen sie vor vielen Barrieren.
Schätzungsweise zehn bis fünfzehn Prozent aller Geflüchteten sind Geflüchtete mit Behinderung. Sie sind in besonderem Maße dem Risiko der Ausgrenzung ausgesetzt. Weltweit – auch in Deutschland. Hierzulande setzt das Modellprojekt Crossroads | Flucht. Migration. Behinderung. von Handicap International gesellschaftliche und politische Impulse für Veränderungen bei der Aufnahme und Integration dieser Menschen. Ziel des Projektes ist es, die Teilhabe Geflüchteter mit Behinderung zu verbessern.