Osama, 34 Jahre
Libanon: 2016
Osama, 34, hat überlebt, woran andere kaputt gehen: Krieg, ein Raketeneinschlag, seither ist er querschnittsgelähmt. Er floh aus Syrien in den Libanon – und hilft jetzt anderen Flüchtlingen mit Behinderungen. Sogar neue Arbeitsplätze schafft der tüchtige Geschäftsmann im Betrieb seines Onkels. Der Bürgerkrieg in Syrien hat etwa die Hälfte der Bevölkerung zur Flucht gezwungen. Über sechs Millionen Syrer sind im eigenen Land vertrieben. 5,6 Millionen syrische Flüchtlinge hat das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) in den Nachbarländern und Nordafrika registriert (Stand: August 2018). Rund 800.000 strandeten in Deutschland.
Der Besuch schmerzt. Wie jedes Mal, wenn Osama mit seinem verbeulten Kia knirschend auf dem Schotter vor den Flüchtlingsbehausungen hält. Ein halbes Dutzend Hütten, hastig zusammengenagelt aus Balken, Brettern und Plastikplanen. Windschief stehen sie am Rand einer staubigen Straße, irgendwo auf einer Wiese im Bekaa-Tal. „ITS“ heißen diese Mini-Siedlungen: „Informal Tented Settlements“.
Osama hasst den traurigen Anblick. Dann sieht er durch das Seitenfenster in ein breites und bekanntes Grinsen, das schon fast auf der Scheibe klebt. Osama kann sich ein Lächeln nicht verkneifen: Meydan hat schon den Rollstuhl aus dem Kofferraum geholt, aufgeklappt und bereitgestellt. Osama, 34, und Meydan, 39, haben das gleiche Schicksal. Raketeneinschläge veränderten das Leben der beiden Männer aus Syrien für immer. In Osamas Rücken stecken immer noch Splitter, er ist querschnittsgelähmt. Auf den ersten Blick hatte Meydan wohl mehr Glück. Die Schrapnelle aus seinem Bein konnten entfernt werden, er kann wieder gehen. Doch zwei seiner Brüder überlebten den Angriff nicht.
Als Meydan im Libanon ankommt, ist er schwer an Körper und Seele verwundet. „Meine Familie hat alles verloren. Ich habe mich geschämt, dass meine Brüder gestorben sind, aber nicht ich. Osama hat mir damals geholfen.“ Osama, der so gut zuhören kann. Gerade, wenn ihm sein Gegenüber nur von Sorgen und Ängsten erzählt. Der sich jeden Satz genau überlegt, bevor er spricht. Weil er weiß, dass Worthülsen sich in einer solchen Situation verbieten. Dafür schenkt er ein aufmunterndes Lächeln. Selbst wenn er Sekunden später kurz vor Schmerzen ächzt. Weil sich der Krieg in seine Muskeln, Sehnen und Nervenbahnen gefressen hat. Dabei hätte Osama allen Grund, selbst zu verzweifeln.
Früher lief alles so gut für ihn. Mit 22 Jahren startet er nach dem Studium in einem Vorort von Damaskus eine kleine Firma, die Möbel aus Holz, Stahl und Glas herstellt. 25 Handwerker arbeiten für ihn. Selfmademan Osama schreibt seine Erfolgsgeschichte, 2013 macht sie der Bürgerkrieg zunichte. Eine Explosion, ein Einschlag, alles geschieht innerhalb eines Augenblicks.
„Haus, Werkstatt und Maschinen sind zerstört“, sagt Osama schlicht. Er erzählt, wie seine Familie zu einem Onkel nahe der Grenze auf libanesischer Seite flüchtet. „Mir ging es damals schlecht, sehr schlecht“, sagt der 34-Jährige. Er muss rasch lernen, mit seiner Behinderung zu leben. „Ich wollte meinen Kindern weiterhin ein Vorbild sein und meiner Frau ein guter Mann. Und ich habe eine Chance gehabt“, sagt Osama. Die Chance ist die Werkstatt seines Onkels.
Osama bringt sein Know-how ein. Er führt die Buchhaltung und hilft an den Maschinen. Mit Erfolg. Bis zu 15 Menschen arbeiten jetzt bei guter Auftragslage in dem Familienbetrieb, mehr als doppelt so viele wie früher. Osama hat geholfen, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Und er gibt in einer Selbsthilfegruppe anderen versehrten Flüchtlingen Mut.
Ich wollte meinen Kindern weiterhin ein Vorbild sein und meiner Frau ein guter Mann. Und ich habe eine Chance gehabt.
Diese Geschichte ist Teil unserer Wanderausstellung erschüttert.
Die Ausstellung können Sie gerne ausleihen und mithelfen, diese Geschichten und ihre starken Botschaften zu verbreiten. Gerne kommt der Autor Till Mayer zu einem Vortrag.
Die ganze Geschichte und mehr Fotos finden Sie auch auf Spiegel Online.
So unterstützt Handicap International
Osama musste aus Syrien fliehen, nachdem sein Leben durch einen Raketeneinschlag erschüttert wurde. Explosivwaffen (Granaten, Raketen, improvisierte Sprengsätze und Streubomben usw.) töten und verstümmeln. Über 90 Prozent der Opfer stammen aus der Zivilbevölkerung – und das, obwohl der Einsatz von Explosivwaffen in bevölkerten Gebieten (EWIPA) durch das Völkerrecht verboten ist. Handicap International setzt sich dafür ein, dass das Völkerrecht und der besondere Schutz, unter dem die Zivilbevölkerung steht, mehr geachtet wird und die Betroffenen der explosiven Kriegsreste unterstützt werden.
Zusammen mit INEW beteiligten wir uns aktiv an dem diplomatischen Prozess zur Ausarbeitung einer politischen Erklärung, die dem besseren Schutz der Zivilbevölkerung vor dem Einsatz von EWIPA dienen soll. Die politische Erklärung wurde bei einer offiziellen Unterzeichnungskonferenz in Dublin am 18. November 2022 bereits von vielen Staaten angenommen und beinhaltet wesentliche Forderungen von HI und INEW: So werden die humanitären Auswirkungen von Explosivwaffen erstmals anerkannt und klare Verpflichtungen für die Staaten zur Opferhilfe, zur Räumung von Kampfmittelrückständen und zur Risikoaufklärung genannt.
- Lesen Sie hier mehr über die fatalen Wirkungen von Explosivwaffen.
Aufgrund seiner Querschnittslähmung steht Osama vor allem in Krisensituationen vor besonderen Herausforderungen. Erdbeben, Stürme, Dürren, Kriege – im Katastrophenfall haben es Menschen mit Behinderung besonders schwer, an Nahrung und Hilfe zu gelangen. Sie werden bei der Planung von Nothilfe-Einsätzen oft schlichtweg übersehen. Handicap International leistet spezialisierte Hilfe und Vorsorge, um genau diese Menschen zu unterstützen.
- Auf unserer Webseite lesen Sie mehr zu inklusiver humanitärer Hilfe.