Halima, 20 Jahre
Tschad 2019
Kriege nehmen neue Formen an. Terrororganisationen wie Boko Haram kämpfen mit unerbittlicher Härte. Sie zwingen Zivilisten als Selbstmordattentäter sich und andere Zivilisten zu töten. Halima wird als Teenager zusammen mit fünf Männern und einer Frau losgeschickt, um sich im Tschad auf einem Markt in die Luft zu sprengen. Sie werden zuvor ertappt. Die Gruppe zündet ihre Sprengsätze. Halima nicht. Doch die Explosion reißt ihr beide Beine ab. Heute lernt sie lesen und schreiben.
Halima hält es kaum noch aus. Die ersten Hütten tauchen auf. Die 20-Jährige beschleunigt den Schritt. Sie würde am liebsten fliegen. Stattdessen läuft sie ein wenig wackelig mit ihren Prothesen im feinen Sand. Endlich daheim, wenn auch nur zu Besuch. Halima kommt nicht mehr oft auf die Insel Gomeron Doudou im Tschad See. Der Tag, an dem sie ihrem Mann zu den Camps von Boko Haram folgen musste, änderte alles. Es war der Abschied von ihrem alten Leben. Die Explosion, die ihr später beide Beine wegriss, machte ihn endgültig. Halima hätte an diesem Tag sterben sollen. Dabei möglichst viele Menschen mit ihr.
Halima erzählt, dass sie auf der Insel eine schöne Kindheit hatte. Sie liebt das Stück Land mitten im See. Den feinen Sand, die Bäume, die in der Hitze Schatten spenden. Die Hütten aus Lehm, Holz und Schilf. Halima könnte wütend auf diesen Ort und ihre Familie sein. Aber sie ist es nicht mehr. Mit 14 wurde sie verheiratet. Niemand fragte das Mädchen, ob sie das wolle. Ihr Mann ist wenige Jahre älter und schließt sich Boko Haram an. Wie andere Männer von den Inseln. Die Armut nimmt ihnen jede Perspektive. Das macht sie anfällig für Boko Haram und Versprechungen von einem islamischen Staat. Das Stammland Nigeria liegt nicht weit von Gomeron Doudou entfernt.
Halima muss nach ihrer Heirat ihren Mann zu den Camps von Boko Haram begleiten. Zuerst geht es in eine kleine Siedlung im ebenfalls angrenzenden Kamerun. „Es war schlimm dort. Es gab fast nichts zu essen“, sagt sie. Ihr Mann ist meist mit anderen Kämpfern fort. Dann kommt der Befehl zum Aufbruch nach Nigeria. Halima erzählt von einem tagelangen Marsch durch den Busch, von Durst und Hunger und davon, dass die Neugeborenen völlig geschwächt sterben.
Halima ist ein gläubiger Mensch. Zu den Koranstunden in Nigeria kam sie stets als erste. Dann spricht sie der Marabout an. Sie werde geradewegs in das Paradies kommen, wenn sie ein „Kamikaze“ werde. Halima glaubt nicht, dass ein Selbstmordattentat der Wille Gottes sein kann. „Gehst du nicht, töten wir dich“, machen ihr die Männer von Boko Haram klar. Sieben Mal versucht Halima zu fliehen. Immer wieder fangen sie sie ein. Beim letzten gescheiterten Versuch sagt ihr einer der Kämpfer: „Fliehst du noch einmal, schächten wir dich wie ein Tier.“
Dann kommt der Tag, an dem sie, fünf Männer und zwei weitere Frauen losgeschickt werden. Halima hofft, dass sie dabei fliehen kann. Es ist eine trügerische Hoffnung. Sie wird wie die anderen unter Drogen gesetzt. Die Sprengsätze sind in Taschen oder Säcken verpackt. Bei Halima in einer Plastiktüte. Andere haben sich den Sprengstoffgürtel direkt auf den Leib geschnürt. So geht es im Boot über den See zum Festland auf Seite des Tschads. In Iga, nahe Bol, sollen sie am Markttag die Bomben hochgehen lassen. Doch Dorfwächter umstellen die siebenköpfige Gruppe, die durch die Dunkelheit schleicht.
Halima ist da gerade etwas abseits und betet. Die Plastiktüte mit ihrem Sprengsatz ist bei den anderen. Sie zünden die Sprengsätze, nur Halima überlebt. Durch die Explosion verliert sie beide Beine. Einem anderen der Gruppe reißt es den Kopf ab. Splitter verletzen einige Dorfbewohner.
Halima hat heute ein Ziel. „Ich will unbedingt gut lesen und schreiben lernen“, sagt sie. Dank Handicap International trägt sie jetzt Prothesen. UNPF (United Nations Population Fund) ermöglicht ihr den Unterricht an einer kleinen, bescheidenen Privatschule in Bol auf dem Festland. Lesen und schreiben können nur wenige auf Gomeron Doudou. „Unser Dorf muss sich entwickeln, Handel treiben. Es braucht eine ordentliche Schule mit ausreichend Lehrern“, sagt sie auf der Insel. Wer Geschäfte machen will, muss lesen, schreiben und rechnen können. Nur, wenn sich ihr Dorf entwickelt, werden von dort keine Männer mehr zu Boko Haram gehen. Keine Frauen mehr verschleppt und als halbe Kinder verheiratet. Das weiß Halima.
„Unser Dorf muss sich entwickeln, Handel treiben. Es braucht eine ordentliche Schule mit ausreichend Lehrern.“
Diese Geschichte ist Teil unserer Wanderausstellung erschüttert.
Die Ausstellung können Sie gerne ausleihen und mithelfen, diese Geschichten und ihre starken Botschaften zu verbreiten. Gerne kommt der Autor Till Mayer zu einem Vortrag.
So unterstützt Handicap International
Halima wurde gezwungen sich und andere Zivilisten durch einen Sprengsatz in den Tod zu reißen. Explosivwaffen (Granaten, Raketen, improvisierte Sprengsätze und Streubomben usw.) töten und verstümmeln. Über 90 Prozent der Opfer stammen aus der Zivilbevölkerung – und das, obwohl der Einsatz von Explosivwaffen in bevölkerten Gebieten (EWIPA) durch das Völkerrecht verboten ist. Handicap International setzt sich dafür ein, dass das Völkerrecht und der besondere Schutz, unter dem die Zivilbevölkerung steht, mehr geachtet wird und die Betroffenen der explosiven Kriegsreste unterstützt werden.
Zusammen mit INEW beteiligten wir uns aktiv an dem diplomatischen Prozess zur Ausarbeitung einer politischen Erklärung, die dem besseren Schutz der Zivilbevölkerung vor dem Einsatz von EWIPA dienen soll. Die politische Erklärung wurde bei einer offiziellen Unterzeichnungskonferenz in Dublin am 18. November 2022 bereits von vielen Staaten angenommen und beinhaltet wesentliche Forderungen von HI und INEW: So werden die humanitären Auswirkungen von Explosivwaffen erstmals anerkannt und klare Verpflichtungen für die Staaten zur Opferhilfe, zur Räumung von Kampfmittelrückständen und zur Risikoaufklärung genannt.
- Lesen Sie hier mehr über die fatalen Wirkungen von Explosivwaffen.
Die Explosion reist Halima beide Beine ab, dank Handicap International trägt sie jetzt Prothesen. Seit der Gründung von Handicap International im Jahr 1982 sind Reha-Leistungen für Menschen mit Behinderung eine zentrale Aufgabe. Fachkräfte werden vor Ort ausgebildet und nutzen lokal verfügbare Materialien, Kompetenzen und Infrastrukturen. Hilfsmittel, wie zum Beispiel Prothesen, Orthesen, Rollstühle oder Hörgeräte, sowie psychosoziale Unterstützung helfen den Betroffenen wieder selbstständig ins Leben zurückzufinden.
- Auf unserer Webseite erfahren Sie mehr zum Thema Rehabilitation.