Kerim vor einer durchlöcherten Wand.

Kerim Kalamujic, 32 Jahre

Bosnien: 2018/1992-1995

In Sarajevo geschieht, was viele für unmöglich halten. Mitten in Europa findet ein hemmungsloses Töten statt. 10.615 Menschen aller Volksgruppen, unter ihnen 1.601 Kinder, fallen der Belagerung von Sarajevo durch die bosnisch-serbische Armee zum Opfer. Durch detonierende Granaten und Minen oder durch Beschuss von Scharfschützen werden rund 50.000 Menschen teilweise schwerst verletzt und versehrt. Laut Angaben der Vereinten Nationen schlagen während des Kriegs täglich durchschnittlich 329 Granaten in der Stadt ein. 1.425 Tage – von 1992 bis 1995 – dauert die Belagerung. Dem Bosnienkrieg fielen insgesamt rund 100.000 Menschen zum Opfer. Als Kind verliert Kerim Kalamujic bei den Kämpfen zwei seiner besten Spielkameraden.

Ausgerechnet die kleine „Glückswelt“ wird zum großen Verhängnis. Die „Glückswelt“ haben Kerim Kalamujic und seine Freunde sich geschaffen, um den Krieg zu vergessen.

Die Matratzen vor den Fenstern zuhause. Die Einschüsse in der Wohnzimmerwand. Den Hunger. All die vielen Stunden im dunklen Keller. Die dumpfen Einschläge der Granaten. Das Zittern des Bodens, wenn eine in der Nähe detoniert. Die Tränen der Mutter und der Schwester. Die Salven der Kalaschnikows und Maschinengewehre.

„Als Kinder brauchten wir unsere Auszeit aus all dem Schrecken. Wir haben uns unsere eigene, glückliche Welt geschaffen. Dort haben wir einfach gespielt, als wäre alles in Ordnung.“ Aber nichts war in Ordnung in diesen 1.425 Tagen der Belagerung von Sarajevo. Samir hätte das wissen müssen. Aber wie Kerim ist er einfach ein Junge, keine zehn Jahre alt, der sich sein Recht zum Spielen nimmt.

Dieses Mal spielen sie Verstecken. Samir vergisst auf die Seite zu achten, aus der der Tod allzu schnell kommen kann. Sie liegt direkt hinter seinem Rücken. Vorne suchen seine Freunde, keiner findet ihn. Nur der Mann in der anderen Richtung sieht, wie sich der Junge aufgeregt kleinmacht, damit er nicht entdeckt wird. Der Scharfschütze drückt ab und trifft.

Der kleine Edin stirbt, als er einen Ball hinterherläuft. „Wir haben im Hinterhof Fußball gespielt“, sagt Kerim Kalamujic. Einer der Jungs tritt den Ball mit solcher Wucht, dass er auf die Straße fliegt.

Es ist schwer zu beschreiben, wie wertvoll dieser Ball in jenen Tagen für die Kinder ist. Der Ball ist ein rundes Stück Freiheit. Ist er weg, dann war es das mit den Fußballspielen. Sie würden keinen neuen bekommen. Woher auch in der belagerten Stadt. Also rennt Edin los. Ein Schuss wirft Edin einfach beim Laufen um. Als würde er stolpern und nur deswegen hinfallen. Doch Kerim weiß, dass sein Freund nicht deswegen fällt.
Kerim hätte täglich in diesen Jahren der Belagerung sterben können. Beim Wasserholen, wenn er mit seiner Mutter losspurtet. Ein Plastikkanister links, einer rechts in den Händen. Überall gibt es Kreuzungen, Wege und Straßen, die von Scharfschützen unter Beschuss genommen werden können. Am Ende des Kriegs wird er als Zehnjähriger schon vier 5-Liter-Kanister schleppen.

Jeden Augenblick hätte eine Artilleriegranate in der Schule einschlagen können. Den Tod hätte eine Mörsergranate bringen können, die aus heiteren Himmel fällt, jede Deckung vor den Scharfschützen nutzlos macht. Oder eine Propellergranate, die mitten in das Wohnzimmer pfeift.

Der junge Kerim lernt die Geräusche des Kriegs, den Pfeifton der Geschosse. Er hat sie bis heute so wenig verlernt, wie er den Tod seiner Freunde vergessen kann. „Das sind wie YouTube-Filme in meinem Kopf. Ich kann alles noch genau vor mir sehen“, meint der 32-Jährige.

„Als Kinder brauchten wir unsere Auszeit aus all dem Schrecken. Wir haben uns unsere eigene, glückliche Welt geschaffen. Dort haben wir einfach gespielt, als wäre alles in Ordnung.“

Die ganze Geschichte und mehr Fotos finden Sie auch auf Spiegel Online.

Kerims Kindheit wurde durch Explosivwaffen erschüttert. Explosivwaffen (Granaten, Raketen, improvisierte Sprengsätze und Streubomben usw.) töten und verstümmeln. Über 90 Prozent der Opfer stammen aus der Zivilbevölkerung – und das, obwohl der Einsatz von Explosivwaffen in bevölkerten Gebieten (EWIPA) durch das Völkerrecht verboten ist. Handicap International setzt sich dafür ein, dass das Völkerrecht und der besondere Schutz, unter dem die Zivilbevölkerung steht, mehr geachtet wird und die Betroffenen der explosiven Kriegsreste unterstützt werden.

Zusammen mit INEW beteiligten wir uns aktiv an dem diplomatischen Prozess zur Ausarbeitung einer politischen Erklärung, die dem besseren Schutz der Zivilbevölkerung vor dem Einsatz von EWIPA dienen soll. Die politische Erklärung wurde bei einer offiziellen Unterzeichnungskonferenz in Dublin am 18. November 2022 bereits von vielen Staaten angenommen und beinhaltet wesentliche Forderungen von HI und INEW: So werden die humanitären Auswirkungen von Explosivwaffen erstmals anerkannt und klare Verpflichtungen für die Staaten zur Opferhilfe, zur Räumung von Kampfmittelrückständen und zur Risikoaufklärung genannt.

Ein wichtiger Bereich des Engagements von Handicap International ist die politische Kampagnen- und Lobbyarbeit. Diese konzentriert sich auf drei zentrale Themen: Abrüstung und Schutz der Zivilbevölkerung, humanitäre Hilfe und inklusive Entwicklung. Bei unserer Arbeit steht die Verbesserung der Lebensbedingungen und die Achtung der Rechte und Würde der Menschen, die wir unterstützen, an erster Stelle.