Valentina, 79 Jahre
Ukraine: 2018
Der Konflikt im Donbas geht weiter – auch wenn die Welt wegschaut. In manchen leeren Dörfern harren fast nur noch die Alten aus: in Schutzkellern, hoffend, dass der Wahnsinn aufhört. So wie Valentina, die mit ihren 79 Jahren nicht verstehen kann, dass in ihrem Dorf Kamyanka Granaten einschlagen.
Über dem groben Mauerwerk liegen die Spinnweben. Valentina zieht den Kopf ein und geht ächzend die Treppenstufen in den engen Schacht hinab. Unten angekommen, sind im Dämmerlicht zwei wackelige Bänke und ein paar Stühle zu sehen. Die 79-Jährige kontrolliert, ob noch genügend Kerzen da sind. Sieben Wachsstäbe klickern, als sie zählt. Mehr als genug für eine Nacht, wenn wieder die Granaten einschlagen. „Im vergangenen Winter ging es besonders hoch her. Hoffentlich wird es dieses Jahr anders“, erinnert sich Valentina. Ihr Atem gefriert in der Luft. Dann stapft sie wieder nach oben, dem Licht entgegen.
Viele sind nicht in Kamyanka, Ostukraine, geblieben. Vor dem Konflikt lebten rund 700 Menschen im Dorf. Jetzt sind es noch 96, ein gutes Drittel von ihnen alte Menschen. Ein gusseiserner Sowjetsoldat zeigt, warum so viele gegangen sind: Eine Granate von der nahen Front hat ihn vor gut einem Jahr einen Arm gekostet. Nun mahnt der Invalide aus Metall vom Ehrenmal in der Dorfmitte.
Valentina wurde im Zweiten Weltkrieg geboren. Ihr Vater, ihr Bruder und ihre Schwester überlebten ihn nicht. Jetzt fürchtet sie, selbst in einem Konflikt zu sterben. Einen, den sie einfach nicht verstehen kann. Seit 2014 stehen sich die ukrainische Armee und die von Russland unterstützten Milizen der selbsternannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk gegenüber.
„Wer hätte das gedacht, dass ich das noch erleben muss. Nächte im Keller verbringen. Die eigenen Leute schießen aufeinander. Selbst in meinen Gemüsegarten ist eine Granate eingeschlagen“, sagt die alte Frau, als sie zu ihrem kleinen Wohnblock marschiert. Das Gemüse, eingemacht in bauchigen Gläsern, hat ihr immer über den Winter geholfen. „Das wird mir jetzt fehlen. Aber ich habe ja auch noch meine Hühner und das Obst von den Bäumen“, sagt sie trotzig.
In ihrer kleinen Wohnung zieht es. Aber immerhin, dank einer Lieferung vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat sie Kohle zum Heizen und Lebensmittelpakete – vor allem aber ein wenig mehr Lebensmut. „Der Beschuss auf unser Dorf, es ist furchtbar. So oft hören wir die Kämpfe bei Awdijiwka. Das Leben war schon vor dem Krieg nicht einfach für uns. Aber jetzt ist es schwer, irgendwie die Hoffnung zu bewahren“, sagt die 79-Jährige.
Das weiß auch Farhana Javid. Die Psychologin des IKRK besucht mit ihrem Team seit über vier Monaten regelmäßig die Babuschkas nahe der Frontlinie. „Zuerst waren sie noch skeptisch. Psychologen, mit denen reden doch nur Verrückte“, erinnert sich die 38-Jährige. Jetzt gibt es herzliche Umarmungen zur Begrüßung. Die Alten von Kamyanka sind froh, wenn ihnen jemand zuhört. Ihnen hilft, wieder ein wenig Zuversicht zu fassen.
Dass sich die alten Damen wie in Friedenszeiten um ihren Garten kümmern, ihre Ernte einwecken, ist schon ein wichtiger Schritt, sagen die Helfenden. Ein selbst eingemachtes Glas Früchtemarmelade kann in Kamyanka so schon für ein klein wenig Hoffnung stehen. Und die Marmelade von Valentina schmeckt süß wie der Frieden.
„Der Beschuss auf unser Dorf, es ist furchtbar. Das Leben war schon vor dem Krieg nicht einfach für uns. Aber jetzt ist es schwer, irgendwie die Hoffnung zu bewahren.“
Diese Geschichte ist Teil unserer Wanderausstellung erschüttert.
Die Ausstellung können Sie gerne ausleihen und mithelfen, diese Geschichten und ihre starken Botschaften zu verbreiten. Gerne kommt der Autor Till Mayer zu einem Vortrag.
Die ganze Geschichte und mehr Fotos finden Sie auch auf Spiegel Online.
So unterstützt Handicap International
In Valentinas Dorf schlagen immer wieder Granaten ein. Die Dorfbewohner verbringen viele Stunden in Schutzkellern. Explosivwaffen (Granaten, Raketen, improvisierte Sprengsätze und Streubomben usw.) töten und verstümmeln. Über 90 Prozent der Opfer stammen aus der Zivilbevölkerung – und das, obwohl der Einsatz von Explosivwaffen in bevölkerten Gebieten (EWIPA) durch das Völkerrecht verboten ist. Handicap International setzt sich dafür ein, dass das Völkerrecht und der besondere Schutz, unter dem die Zivilbevölkerung steht, mehr geachtet wird und die Betroffenen der explosiven Kriegsreste unterstützt werden.
Zusammen mit INEW beteiligten wir uns aktiv an dem diplomatischen Prozess zur Ausarbeitung einer politischen Erklärung, die dem besseren Schutz der Zivilbevölkerung vor dem Einsatz von EWIPA dienen soll. Die politische Erklärung wurde bei einer offiziellen Unterzeichnungskonferenz in Dublin am 18. November 2022 bereits von vielen Staaten angenommen und beinhaltet wesentliche Forderungen von HI und INEW: So werden die humanitären Auswirkungen von Explosivwaffen erstmals anerkannt und klare Verpflichtungen für die Staaten zur Opferhilfe, zur Räumung von Kampfmittelrückständen und zur Risikoaufklärung genannt.
- Lesen Sie hier mehr über die fatalen Wirkungen von Explosivwaffen.
Ältere Menschen in Konfliktregionen wie Valentina haben oftmals keinen Zugang zum Gesundheitssystem. Handicap International setzt sich für besonders schutzbedürftige Menschen sowie Menschen mit Behinderung ein, um Zugang zu angemessener Pflege zu erhalten. Handicap International unterstützt im Bereich der Prävention und Gesundheit mit Aufklärung bis hin zu psychologischer Hilfe.
- Auf unserer Webseite lesen Sie mehr zum Thema Prävention und Gesundheit.